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Von unseren Unterschieden lernen – Montessori-Pädagogik und Integration in der Grundschule Steinbach
Ein Blick in unsere Arbeit Franziska
(8 Jahre) sitzt an ihrem Tisch und rechnet mit dem "Markenspiel"
vierstellige Divisionsaufgaben. Währenddessen sortieren Steffen (6 Jahre)
und Carmen (7 Jahre) auf dem Teppich vor dem Fenster gerade Steffens Münzensammlung
nach dem Material, aus dem die Geldstücke gemacht sind. Carmen kann schon
gut schreiben. Sie beschriftet kleine Zettelchen in Schreibschrift und
legt sie über die entsprechenden "Geldhaufen":
"Messing", "Kupfer", usw. Sara (11 Jahre) macht
Syntheseübungen - Leseübungen zum Verbinden mehrerer Laute. Lesenlernen
ist für sie sehr schwierig. Sie muss jeden Tag daran üben - in kleinen
Schritten. Eine Gruppe von Jungen blättert in einem Buch über
"Katastrophen" und diskutiert den New Yorker Anschlag auf dem
Hintergrund anderer schlimmer Unglücke der Menschheitsgeschichte - Ralf möchte
ein Referat darüber halten. Noch viele andere Kinder sind anwesend, die
wieder andere Dinge tun. Eine Lehrerin und ein Lehrer sind ebenfalls im
Raum. Die Lehrerin liest mit Sara und der Lehrer führt an einem Tisch
eine Mädchengruppe in die Satzzerlegung mit der "grünen Serie"
ein (Grammatikübungen, die helfen, das Prädikat, das Subjekt und das
Objekt eines Satzes zu erkennen). Dies
ist ein Einblick in die "Freie Arbeit" - dem täglichen Kernstück
unserer Arbeit im Montessorizug der Grundschule Steinbach. Mit Absicht sind
bei uns (wie in anderen deutschen Montessorischulen auch) vier Jahrgänge
gemischt. Jeweils vier Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die
sonst eine Sonderschule besuchen würden, gehören zu jeder unserer Klassen.
Dafür kommen aus den kooperierenden Haller Sonderschulen (Friedensbergschule,
Sonnenhof und Wolfgang-Wendlandt-Schule) stundenweise begleitende
Sonderschullehrer oder sonderpädagogisch ausgebildete Fachkräfte. Zu
den bestehenden vier Klassen des "klassischen Zuges" kam 1995 die
erste Montessoriklasse in Steinbach dazu - mittlerweile sind es vier. Unsere
Schule beherbergt inzwischen also acht Klassen - sechs davon sind
altersgemischt. Schon nach der Gründung der Haller Montessori-Initiative vor zehn Jahren war der Beginn der ersten Montessori-Kindergartengruppe "integrativ". Weil es im Altkreis Schwäbisch Hall keinen Sprachheilkindergarten gab und gibt, arbeitete Cornelie Heller-Merschroth, die Leiterin der Wolfgang-Wendlandt-Schule (Spracheilschule), intensiv mit der Initiative zusammen um diesen ersten integrativen Haller Kindergarten auf den Weg zu bringen, in dem seither immer Plätze für sprachbehinderte Kinder reserviert sind. (Bei jüngeren sprachbehinderten Kindern liegt der Vorteil integrativer Einrichtungen auf der Hand, weil diese Kinder das Vorbild altersgemäß sprechender Kinder in ihrer Gruppe sehr nötig haben.) Als die ersten Kinder den Montessorikindergarten verlassen sollten, wandte sich die Initiative an das Staatliche Schulamt, die Stadt und die beteiligten Grund- und Sonderschulen um den pädagogischen Ansatz, aber auch das integrative Konzept fortführen zu können. Montessoripädagogik
und Integration – Selbstverständliche Vielfalt Montessoripädagogik
ist in ihrer Struktur integrativ: Das Lernen im eigenen Rhythmus, mit frei gewählten
Partnern und an einem frei gewählten Gegenstand sind die Grundprinzipien der
"Freien Arbeit". Dahinter steht die Überzeugung, dass vor allem so
Entwicklungsprozesse gefördert werden. Damit diese gelingen können ist aber
eine "vorbereitete Umgebung" wichtig, die möglichst genau auf das
Entwicklungsniveau von - in unserem Fall - fünf bis zwölfjährigen Kinder
abgestimmt ist. Es müssen erprobte Entwicklungsmaterialien vorhanden sein,
die die Kinder ansprechen und ihnen handelnde und möglichst selbständige
Lernprozesse ermöglichen. Der
Ansatz, dass Lernen von eigenen Impulsen und den Unterschieden der Beteiligten
ausgeht, führt dazu, dass wir alle lernen müssen, die Unterschiedlichkeit
jedes Einzelnen unserer Gruppe zu akzeptieren. Das sagt sich leicht, ist in
der Praxis aber ein langanhaltender und spannender Prozess. Und es gelingt
auch nicht nur durch die Freiarbeit, wir brauchen zusätzlichen Raum und Zeit
dafür. Im täglichen Morgenkreis und im Klassenrat haben wir Platz für
solche Gespräche, Rollenspiele, usw. geschaffen. Weil
sowohl in der Freien Arbeit als auch im gebundenen Unterricht in unseren
altersgemischten Klassen die Kinder auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau
arbeiten können, ist in dieser Pädagogik Integration natürlich und
selbstverständlich: Mit Ausnahme weniger Stunden sind wir den ganzen
Vormittag über zusammen. Wir lernen voneinander, weil wir wissen, dass jeder
von uns unterschiedliche Fähigkeiten hat und auch an unterschiedlichen
Stellen Hilfestellungen benötigt. Integration meint hier also nicht nur die
Zusammenführung, das Zusammenleben von Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten
oder schwacher, normaler und hoher Begabung. Es geht hier viel mehr darum,
dass unsere Verschiedenartigkeit in allen Bereichen wahrgenommen und
akzeptiert wird - auch unsere Interessen, unser Alter, unser Geschlecht, unser
kultureller Zusammenhang, Religion, usw. (Leider haben bisher noch keine
Eltern von Kindern aus anderen Kulturkreisen den Weg in unsere Klassen
gefunden - erste Kontakte z.B. zum türkischen Kulturverein haben im
vergangenen Schuljahr stattgefunden). Nachteile?
Ein
Beispiel, das prinzipiell zu denken gibt: Am Ende seiner Grundschulzeit bei
uns hat ein massiv körperbehindertes Kind, das vom Sonnenhof begleitet wurde
und sich bei uns gut entwickelt hat, den Wunsch geäußert, in der Zukunft
lieber eine Schule für Körperbehinderte zu besuchen - als sich für einen
geplanten Integrationsversuch in einer weiterführenden Haller Schule zu
begeistern. Dahinter stand sicherlich der Wunsch nach der Zusammengehörigkeit
zu "Gleichartigen", die in einer integrativen Gruppe natürlich
"dünner gesät" sind als in altershomogenen oder gar
behinderungsspezifischen Klassen. Altersgemischte,
integrative Klassen dürfen nicht zu klein sein. Kinder sollten die Möglichkeit
haben Partner und Freunde zu finden, die zu ihnen passen. Es gibt aber auch
Kinder für die der Besuch einer großen Integrationsklasse wenig sinnvoll
erscheint. Dies sind Kinder, die kleine Klassen (also Sonderschulen) benötigen:
Kinder, die Schwierigkeiten haben das soziale Geschehen einer Gruppe zu
verstehen oder sich darin einzubringen und dabei auf längere Sicht die
Begleitung von Erwachsenen brauchen. Das hat nichts mit dem allgemeinen oder
kognitiven Entwicklungsstand zu tun. Auch sehr schwache Kinder können
prinzipiell in einer integrativen Klasse gut zurecht kommen. In unserem Fall können
wir aber die Aufnahme von Kindern, die viel Einzelanleitung benötigen, bis
jetzt nicht verantworten, weil die Lehrerversorgung in Steinbach dafür nicht
ausreicht. Bisher sind wir LehrerInnen durchschnittlich nur in zehn
Wochenstunden zu zweit - in vierzehn also alleine. Abwägungen
– zwei Beispiele Jetzt
zu Beginn des Schuljahres sind die neuen Kinder in die bestehenden Klassen
gekommen - eine altersgemischte Klasse fängt ja nur einmal an und hört erst
auf, wenn sie von außen abgeschafft wird, wenn z.B. die Einrichtung
geschlossen wird. Am Ende des letzten Schuljahres haben die meisten Kinder
eine Patenschaft für die jungen Kinder vereinbart. Jetzt - in der dritten
Schulwoche ist von manchen Patenschaften schon nichts mehr zu spüren, die
meisten "Erstklässler" sind als solche nicht mehr zu erkennen.
Manche aber sehr wohl: Im Sportunterricht haben wir eine Kletterlandschaft
aufgebaut, die an der Sprossenwand sehr hoch hinaufreicht. Zwei Mädchen, die
im vierten Jahr in meiner Klasse sind, begleiten Jenny, "eine
Kleine" kriechend auf einer steilen Langbank hinauf. Sie fragen Jenny ständig:
"Geht's? Hast du Angst? Sollen wir dich nicht besser halten?" Jenny
verneint lachend. Sie genießt die Zuwendung, braucht das
"Bemuttern" aber eigentlich nicht. Warum tun "die Großen"
das? Warum turnen sie nicht nach ihren Möglichkeiten: höher, weiter,
schneller? Eine Möglichkeit: Sie sind in einem Alter, in dem sie spüren,
dass ihre Kindheit zu Ende geht. Mit Jenny können sie dem noch einmal nachspüren,
was es heißt ein jüngeres Kind zu sein. Außer
organisatorischen Schwierigkeiten bringt die Altersmischung aus unserer Sicht
keine Nachteile mit sich und das soziale Klima, die Atmosphäre in unseren
altersgemischten Klassen wird trotz vieler 'Problemkinder' von den meisten
Besuchern als sehr wohltuend empfunden. Mehr
Schwierigkeiten sehen wir bei der Integration von Kindern mit sonderpädagogischem
Förderbedarf, weil hier immer zwei Aspekte gegeneinander abzuwägen sind: Wie
weit werden die Kinder von den anderen Kindern mitgetragen? Wie schnell oder
oft brauchen sie direkte Hilfestellungen, die nur Erwachsene geben können? Hier
versuchen wir vor der Aufnahme in den Montessorizug die Chancen - soweit möglich
- abzuwägen. Und auch wenn die Kinder bei uns sind, versuchen wir immer
wieder zu überlegen, wie die Entwicklungen und Lernfortschritte sind, wie das
Kind in der Gruppe integriert ist, ob es sich wohlfühlt. Gestern
habe ich eine in dieser Hinsicht deutlich positive Situation erlebt: Martin (7
Jahre), ein massiv sprachbehindertes Kind, ist neu in unserer Klasse und hat
relativ kurze Konzentrationsspannen. Er hat sich zum vierten Male das
Tierklassenmaterial geholt. Matthias (8 Jahre), der an seiner Tischgruppe
sitzt, hat die Arbeit bereits mehrmals begleitet. Weil die Tierarten als
Zeichnung auf dem Tisch liegen und auch beschriftet sind, kann Martin auf die
Tiere zeigen, Matthias kann sie benennen. So können sich die Kinder gut darüber
verständigen, obwohl Martins Sprache nur sehr schwer zu verstehen ist. Die
beiden arbeiten schon eine Weile miteinander, als ich an der Tischgruppe
vorbeikomme und Matthias' gut gelaunten Satz aufschnappe: "Also Martin,
gestern hast du den Hai doch auch nicht zu den Vögeln gelegt, sondern zu den
Fischen. Los, konzentrier dich!"
Anmerkung:
Alle Namen von Kindern sind geändert.
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