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Von unseren Unterschieden lernen –

Montessori-Pädagogik und Integration in der Grundschule Steinbach

Von Thomas Helmle

 

Ein Blick in unsere Arbeit

Franziska (8 Jahre) sitzt an ihrem Tisch und rechnet mit dem "Markenspiel" vierstellige Divisionsaufgaben. Währenddessen sortieren Steffen (6 Jahre) und Carmen (7 Jahre) auf dem Teppich vor dem Fenster gerade Steffens Münzensammlung nach dem Material, aus dem die Geldstücke gemacht sind. Carmen kann schon gut schreiben. Sie beschriftet kleine Zettelchen in Schreibschrift und legt sie über die entsprechenden "Geldhaufen": "Messing", "Kupfer", usw. Sara (11 Jahre) macht Syntheseübungen - Leseübungen zum Verbinden mehrerer Laute. Lesenlernen ist für sie sehr schwierig. Sie muss jeden Tag daran üben - in kleinen Schritten. Eine Gruppe von Jungen blättert in einem Buch über "Katastrophen" und diskutiert den New Yorker Anschlag auf dem Hintergrund anderer schlimmer Unglücke der Menschheitsgeschichte - Ralf möchte ein Referat darüber halten. Noch viele andere Kinder sind anwesend, die wieder andere Dinge tun. Eine Lehrerin und ein Lehrer sind ebenfalls im Raum. Die Lehrerin liest mit Sara und der Lehrer führt an einem Tisch eine Mädchengruppe in die Satzzerlegung mit der "grünen Serie" ein (Grammatikübungen, die helfen, das Prädikat, das Subjekt und das Objekt eines Satzes zu erkennen).

Dies ist ein Einblick in die "Freie Arbeit" - dem täglichen Kernstück unserer Arbeit im Montessorizug der Grundschule Steinbach. Mit Absicht sind bei uns (wie in anderen deutschen Montessorischulen auch) vier Jahrgänge gemischt. Jeweils vier Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die sonst eine Sonderschule besuchen würden, gehören zu jeder unserer Klassen. Dafür kommen aus den kooperierenden Haller Sonderschulen (Friedensbergschule, Sonnenhof und Wolfgang-Wendlandt-Schule) stundenweise begleitende Sonderschullehrer oder sonderpädagogisch ausgebildete Fachkräfte.

Zu den bestehenden vier Klassen des "klassischen Zuges" kam 1995 die erste Montessoriklasse in Steinbach dazu - mittlerweile sind es vier. Unsere Schule beherbergt inzwischen also acht Klassen - sechs davon sind altersgemischt.

Schon nach der Gründung der Haller Montessori-Initiative vor zehn Jahren war der Beginn der ersten Montessori-Kindergartengruppe "integrativ". Weil es im Altkreis Schwäbisch Hall keinen Sprachheilkindergarten gab und gibt, arbeitete Cornelie Heller-Merschroth, die Leiterin der Wolfgang-Wendlandt-Schule (Spracheilschule), intensiv mit der Initiative zusammen um diesen ersten integrativen Haller Kindergarten auf den Weg zu bringen, in dem seither immer Plätze für sprachbehinderte Kinder reserviert sind. (Bei jüngeren sprachbehinderten Kindern liegt der Vorteil integrativer Einrichtungen auf der Hand, weil diese Kinder das Vorbild altersgemäß sprechender Kinder in ihrer Gruppe sehr nötig haben.) Als die ersten Kinder den Montessorikindergarten verlassen sollten, wandte sich die Initiative an das Staatliche Schulamt, die Stadt und die beteiligten Grund- und Sonderschulen um den pädagogischen Ansatz, aber auch das integrative Konzept fortführen zu können.

Montessoripädagogik und Integration – Selbstverständliche Vielfalt

Montessoripädagogik ist in ihrer Struktur integrativ: Das Lernen im eigenen Rhythmus, mit frei gewählten Partnern und an einem frei gewählten Gegenstand sind die Grundprinzipien der "Freien Arbeit". Dahinter steht die Überzeugung, dass vor allem so Entwicklungsprozesse gefördert werden. Damit diese gelingen können ist aber eine "vorbereitete Umgebung" wichtig, die möglichst genau auf das Entwicklungsniveau von - in unserem Fall - fünf bis zwölfjährigen Kinder abgestimmt ist. Es müssen erprobte Entwicklungsmaterialien vorhanden sein, die die Kinder ansprechen und ihnen handelnde und möglichst selbständige Lernprozesse ermöglichen.

Der Ansatz, dass Lernen von eigenen Impulsen und den Unterschieden der Beteiligten ausgeht, führt dazu, dass wir alle lernen müssen, die Unterschiedlichkeit jedes Einzelnen unserer Gruppe zu akzeptieren. Das sagt sich leicht, ist in der Praxis aber ein langanhaltender und spannender Prozess. Und es gelingt auch nicht nur durch die Freiarbeit, wir brauchen zusätzlichen Raum und Zeit dafür. Im täglichen Morgenkreis und im Klassenrat haben wir Platz für solche Gespräche, Rollenspiele, usw. geschaffen.

Weil sowohl in der Freien Arbeit als auch im gebundenen Unterricht in unseren altersgemischten Klassen die Kinder auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau arbeiten können, ist in dieser Pädagogik Integration natürlich und selbstverständlich: Mit Ausnahme weniger Stunden sind wir den ganzen Vormittag über zusammen. Wir lernen voneinander, weil wir wissen, dass jeder von uns unterschiedliche Fähigkeiten hat und auch an unterschiedlichen Stellen Hilfestellungen benötigt. Integration meint hier also nicht nur die Zusammenführung, das Zusammenleben von Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten oder schwacher, normaler und hoher Begabung. Es geht hier viel mehr darum, dass unsere Verschiedenartigkeit in allen Bereichen wahrgenommen und akzeptiert wird - auch unsere Interessen, unser Alter, unser Geschlecht, unser kultureller Zusammenhang, Religion, usw. (Leider haben bisher noch keine Eltern von Kindern aus anderen Kulturkreisen den Weg in unsere Klassen gefunden - erste Kontakte z.B. zum türkischen Kulturverein haben im vergangenen Schuljahr stattgefunden).

Nachteile?

Ein Beispiel, das prinzipiell zu denken gibt: Am Ende seiner Grundschulzeit bei uns hat ein massiv körperbehindertes Kind, das vom Sonnenhof begleitet wurde und sich bei uns gut entwickelt hat, den Wunsch geäußert, in der Zukunft lieber eine Schule für Körperbehinderte zu besuchen - als sich für einen geplanten Integrationsversuch in einer weiterführenden Haller Schule zu begeistern. Dahinter stand sicherlich der Wunsch nach der Zusammengehörigkeit zu "Gleichartigen", die in einer integrativen Gruppe natürlich "dünner gesät" sind als in altershomogenen oder gar behinderungsspezifischen Klassen.

Altersgemischte, integrative Klassen dürfen nicht zu klein sein. Kinder sollten die Möglichkeit haben Partner und Freunde zu finden, die zu ihnen passen. Es gibt aber auch Kinder für die der Besuch einer großen Integrationsklasse wenig sinnvoll erscheint. Dies sind Kinder, die kleine Klassen (also Sonderschulen) benötigen: Kinder, die Schwierigkeiten haben das soziale Geschehen einer Gruppe zu verstehen oder sich darin einzubringen und dabei auf längere Sicht die Begleitung von Erwachsenen brauchen. Das hat nichts mit dem allgemeinen oder kognitiven Entwicklungsstand zu tun. Auch sehr schwache Kinder können prinzipiell in einer integrativen Klasse gut zurecht kommen. In unserem Fall können wir aber die Aufnahme von Kindern, die viel Einzelanleitung benötigen, bis jetzt nicht verantworten, weil die Lehrerversorgung in Steinbach dafür nicht ausreicht. Bisher sind wir LehrerInnen durchschnittlich nur in zehn Wochenstunden zu zweit - in vierzehn also alleine.

Abwägungen – zwei Beispiele

Jetzt zu Beginn des Schuljahres sind die neuen Kinder in die bestehenden Klassen gekommen - eine altersgemischte Klasse fängt ja nur einmal an und hört erst auf, wenn sie von außen abgeschafft wird, wenn z.B. die Einrichtung geschlossen wird. Am Ende des letzten Schuljahres haben die meisten Kinder eine Patenschaft für die jungen Kinder vereinbart. Jetzt - in der dritten Schulwoche ist von manchen Patenschaften schon nichts mehr zu spüren, die meisten "Erstklässler" sind als solche nicht mehr zu erkennen. Manche aber sehr wohl: Im Sportunterricht haben wir eine Kletterlandschaft aufgebaut, die an der Sprossenwand sehr hoch hinaufreicht. Zwei Mädchen, die im vierten Jahr in meiner Klasse sind, begleiten Jenny, "eine Kleine" kriechend auf einer steilen Langbank hinauf. Sie fragen Jenny ständig: "Geht's? Hast du Angst? Sollen wir dich nicht besser halten?" Jenny verneint lachend. Sie genießt die Zuwendung, braucht das "Bemuttern" aber eigentlich nicht. Warum tun "die Großen" das? Warum turnen sie nicht nach ihren Möglichkeiten: höher, weiter, schneller? Eine Möglichkeit: Sie sind in einem Alter, in dem sie spüren, dass ihre Kindheit zu Ende geht. Mit Jenny können sie dem noch einmal nachspüren, was es heißt ein jüngeres Kind zu sein.

Außer organisatorischen Schwierigkeiten bringt die Altersmischung aus unserer Sicht keine Nachteile mit sich und das soziale Klima, die Atmosphäre in unseren altersgemischten Klassen wird trotz vieler 'Problemkinder' von den meisten Besuchern als sehr wohltuend empfunden.

Mehr Schwierigkeiten sehen wir bei der Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, weil hier immer zwei Aspekte gegeneinander abzuwägen sind: Wie weit werden die Kinder von den anderen Kindern mitgetragen? Wie schnell oder oft brauchen sie direkte Hilfestellungen, die nur Erwachsene geben können?

Hier versuchen wir vor der Aufnahme in den Montessorizug die Chancen - soweit möglich - abzuwägen. Und auch wenn die Kinder bei uns sind, versuchen wir immer wieder zu überlegen, wie die Entwicklungen und Lernfortschritte sind, wie das Kind in der Gruppe integriert ist, ob es sich wohlfühlt.

Gestern habe ich eine in dieser Hinsicht deutlich positive Situation erlebt: Martin (7 Jahre), ein massiv sprachbehindertes Kind, ist neu in unserer Klasse und hat relativ kurze Konzentrationsspannen. Er hat sich zum vierten Male das Tierklassenmaterial geholt. Matthias (8 Jahre), der an seiner Tischgruppe sitzt, hat die Arbeit bereits mehrmals begleitet. Weil die Tierarten als Zeichnung auf dem Tisch liegen und auch beschriftet sind, kann Martin auf die Tiere zeigen, Matthias kann sie benennen. So können sich die Kinder gut darüber verständigen, obwohl Martins Sprache nur sehr schwer zu verstehen ist.

Die beiden arbeiten schon eine Weile miteinander, als ich an der Tischgruppe vorbeikomme und Matthias' gut gelaunten Satz aufschnappe: "Also Martin, gestern hast du den Hai doch auch nicht zu den Vögeln gelegt, sondern zu den Fischen. Los, konzentrier dich!"  

Anmerkung: Alle Namen von Kindern sind geändert.  

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