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Folgender
Text wurde vom Kollegium des Montessorizugs im März 2003 als Erfahrungsbericht
über die integrative Arbeit im Rahmen von ISEP (Integratives
Schulentwicklungsprogramm) geschrieben.
Alle Namen der Kinder wurden geändert.
Von
unseren Unterschieden lernen
Montessori-Pädagogik
und Integration
in der Grundschule Steinbach
Eine
Momentaufnahme während der Freien Arbeit
BesucherInnen
des Montessorizugs in Steinbach können die Besonderheiten dieser Schule
am besten erleben, wenn sie die Kinder und Lehrer während der Freien
Arbeit beobachten. Ein Protokoll könnte folgendermaßen aussehen:
Vanessa
(9 Jahre) beklebt eine Styroporkugel mit einem Papier, auf dem die
Kontinente der Erde in Segmenten wie beim Schälen einer Orange abgebildet
sind. Die Erdteile hat sie sorgfältig ausgemalt und beschnitten. Vom
Klassenlehrer lässt sie sich kurz zeigen, wie man das Papier auf der
Kugel festkleben kann. Später möchte Vanessa zu allen Erdteilen noch zeichnen und aufschreiben, welche Tiere dort beheimatet sind.
Doris
(10) hat das alte Spaß-Gedicht "Finster war's, der Mond schien
helle" vor sich liegen. Mit einer Schablone zeichnet sie über jedes
einzelne Wort ein Symbol für die entsprechende Wortart. Zu Beginn des
Vormittags hatten die "Großen" noch gemeinsam mit dem Lehrer an
den Wortarten geübt und einen Test zum Abschluss der mehrwöchigen
Grammatik-Einheit geschrieben. Lotta griff die Anregung auf selbst ein größeres
Gedicht zu analysieren. Aber die vielen unterschiedlichen Adverbien sind
kompliziert und machen Mühe. Die Mitschülerinnen können nicht helfen,
deshalb wendet sie sich auch einige Male an den Lehrer.
Anke
(9), Christine (10) und Ute (10) haben ein Konzeptblatt vor sich liegen
und unterhalten sich flüsternd darüber, welche Antwort sie einer in
Deutschland lebenden Inderin mailen könnten. Diese hatte sich per E-Mail
gemeldet, weil sie beim Surfen auf die von den Kindern hergestellten
Sandmandala-Bilder auf unserer Website gestoßen war. Sie bot sich an über
den kulturellen Hintergrund dieser Kunst mehr zu erzählen. Wie antwortet
man auf solch ein Schreiben? Der Lehrer gibt zu bedenken, dass die höfliche
Anredeform "Sie" angemessen wäre. Die Kinder überzeugt dieser
Hinweis allerdings nicht.
Christopher
(7) hatte von zuhause eine ganze Kiste mit technischem Zubehör zum Bau
eines Dampfbootes mitgebracht. Auch seine Freunde Lars (7) und Jens (7)
sind mit Feuer und Flamme dabei. Leider geht das nicht so leise, dass
andere Kinder nicht beeinträchtigt würden. Die Lehrer versuchen immer
wieder den Geräuschpegel zu senken. Es ist hart an der Grenze des
Zumutbaren. Aber einige Tage später wird das "Referat" von
Christopher die Klasse sehr verblüffen. Christopher kann die Funktion
einer Dampfmaschine präzise und anschaulich erläutern und erhält dafür
von der Gruppe große Anerkennung, die ihm wiederum sichtlich gut tut.
Florian
(8) hat sich mit der "Apotheke" in eine Zimmerecke zurückgezogen.
Mit diesem Material kann man Millionenzahlen durch ein- bis vierstellige
Zahlen konkret-handelnd dividieren. Verschiedene Glaskugeln, die
unterschiedliche Stellenwerte darstellen, werden auf Lochbrettern an
Spielfiguren verteilt, bis man das Ergebnis, das eine Figur bekommt, vor
sich hat. Das ist eine komplexe Arbeit, die eine genaue Einführung
braucht. Florian benötigte dafür jedoch keinen Lehrer; er ließ sich das
Material von Andreas (10) zeigen, der schon viel Erfahrung damit hat.
Kai (9)
schreibt die Aufgaben einer Deutsch-Karteikarte in sein Heft. Er tut dies
nicht aus eigener Wahl, aber er akzeptiert die Sanktion, dass er seine
nicht gemachte Hausaufgabe zuerst in der Schule nachholen muss, bevor er
wieder selbst entscheiden kann, was er in der Freien Arbeit machen wird.
Sören
(9) und Marcus (8) zeichnen aus einem Fachbuch akkurat die Ausrüstung
eines alten ägyptischen Kriegers ab. Beide haben ein beeindruckend
umfangreiches und detailliertes Wissen. Einige der auf dem Tisch liegenden
Bücher haben sie extra von der Stadtbibliothek ausgeliehen. Aber wie können
die vielen Informationen verarbeitet werden? Die Jungen tauchen ein in die
Welt des Krieges – die Zeichnungen verändern ihren Charakter und werden
zu Schlachtenbilder. Die Lehrerin entscheidet sich steuernd einzugreifen.
Sie erstellt auf einem neuen Papier eine Mindmap, auf der nun gemeinsam
mit den Jungen einige konkrete Arbeitsschritte für das gewählte
Referatsthema geplant werden.
Sandra
(9) sieht nicht sehr glücklich aus. Sie hätte so gerne mit einer
Partnerin zusammen etwas zum Thema "Hunde" gemacht, aber niemand
wollte sich (momentan?) mit ihr zusammentun. Enttäuscht sitzt sie an
ihrem Platz und durchsucht lustlos ihre Tischablagekiste. Die beiden
Lehrer in der Klasse registrieren dies, verständigen sich aber kurz darüber,
dass sie Sandra jetzt nicht helfen können. Sie nehmen sich vor, das
Problem im Auge behalten, weil es in letzter Zeit häufiger vorkam.
Vielleicht kann man bei anderer Gelegenheit eine Partnerarbeit initiieren
oder die Situation im Klassenrat einmal offen ansprechen.
Laura
und Jana (beide 7) leisten sich fast ein Wettrennen bei der Herstellung
einer Zahlenrolle: Wer kommt als erste bis 1000? Sie sind immerhin schon
knapp vor Hundert, aber der Weg wird noch weit werden...
Könnte
ein Besucher erkennen, welche der Kinder einen Integrationsplatz
einnehmen? Von den oben beschriebenen Kindern sind dies Vanessa und
Sandra. Doch sollte durch die geschilderte Momentaufnahme einer Freiarbeitsphase deutlich geworden sein, dass diese Kinder
nicht automatisch eine herausragende Rolle im Alltag spielen.
Welche Bedeutung hat dann für die Steinbacher Montessoriklassen die
Zusammenführung von Kindern mit eingeschränkten und normal ausgeprägten
Begabungen und Fähigkeiten? Der pädagogischen Arbeit in Anlehnung an die
Pädagogik Maria Montessoris liegt ein umfassendes, grundlegendes Konzept
von Integration zu Grunde. Die in unseren sozialen Systemen vorfindbare
selbstverständliche Vielfalt der Altersstufen, Begabungen, Behinderungen
und Mentalitäten soll sich bewusst in den Lerngruppen widerspiegeln.
Dieses umzusetzen ist in der Praxis anspruchsvoll, dabei aber nicht
vordergründig als Belastung zu verstehen. Die Chancen und Vorteile sind
– bei angemessenen Rahmenbedingungen – im Lern- und Arbeitsverhalten
und im sozialen Klima der Gruppe in überzeugender Weise erkennbar.
Die
formalen Rahmenbedingungen
-
Die Lerngruppen (Klassen) des
Montessorizugs arbeiten jahrgangsgemischt, d. h. Kinder des ersten bis
vierten Schuljahrs bilden zusammen eine Klasse. Jedes Jahr verlassen
einige Kinder nach vier (in Ausnahmefällen nach fünf) Schuljahren die
Gruppe und verteilen sich auf weiterführende Schulen. An ihrer Stelle
werden neue Schulanfänger aufgenommen.
-
In jeder Gruppe sind einige Plätze
Kindern mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf vorbehalten.
Das sind Kinder, die andernfalls eine Sonderschule besuchen würden. Die
Art der Einschränkung oder des Förderbedarfs ist nicht von vornherein
festgelegt; grundsätzlich können Kinder jeder Behinderungsart angemeldet
werden. Über die Möglichkeit der Aufnahme muss in jedem Fall individuell
entschieden werden.
-
Die Zahl der Plätze für Kinder mit
Gutachten hängt von der Gruppengröße ab. Zur Zeit gibt es eine kleinere
Gruppe mit einer Soll-Größe von 24 Kindern. Davon sind vier Plätze für
Kinder mit Gutachten. Die beiden anderen Lerngruppen sind größer und
haben jeweils etwa 30 bis 36 Kinder, davon sechs oder sieben mit
festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf.
-
Von der gesamten Unterrichtszeit sind
in der kleineren Klasse während 12 Wochenstunden zwei Lehrkräfte
anwesend. In den größeren Klassen kann fast die gesamte Zeit im Team
unterrichtet werden. Diesem Konzept des Teamteachings liegen
Vereinbarungen mit den Partner-Sonderschulen und dem staatlichen Schulamt
zu Grunde. Von Anfang an (den Montessorizug gibt es seit 1995) gab es eine
enge Kooperation mit den Sonderschulen im Kreis Schwäbisch Hall. So wurde
– in wohlwollender Unterstützung – von den Partnerschulen eine
"Rechnung" akzeptiert, wonach eine bestimmte Anzahl von Kindern,
die statt der Sonderschule den Montessorizug besuchen, eine bestimmte
Stundenzahl an Lehrerdeputaten freistellen, die an den Montessorizug
abgegeben werden können. Diese Rechnung orientiert sich zwar an üblichen
Lehrer-Schüler-Koeffizienten, lässt sich aber im Einzelnen nicht direkt
anwenden oder gar einfordern. Es liegt letztlich im Ermessensspielraum des
Staatlichen Schulamtes, die für das Steinbacher Konzept existenziell
notwendigen personellen Ressourcen bereitzustellen. Konkret wurde dies in
den letzten Jahren zum Beispiel so gelöst, dass eine Kollegin mit fast
ihrem gesamten Deputat von der Sprachheilschule und eine zweite Kollegin
mit 10 Stunden von der Förderschule abgeordnet wurde.
-
Das Einzugsgebiet für die Schüler des
Montessorizugs ist das gesamte Stadtgebiet, für die Kinder mit Gutachten
das weiterreichende Gebiet des Landkreises.
-
Schulberichte und Jahreszeugnisse bei
Kindern mit Gutachten können je nach den Gegebenheiten flexibel erstellt
werden. So wie es zum Teil bei den Förderschulen üblich ist, kann in
diesen Fällen in Steinbach auf Ziffernnoten verzichtet und statt dessen
eine verbale Beschreibung der Entwicklung geschrieben werden. Die Eltern
werden bei der Entscheidung der Berichtsform miteinbezogen. Wo es sinnvoll
erscheint, können auch für einzelne Lernbereiche Leistungsnoten und
eventuell ihr Bezugsrahmen (Bildungsplan Grundschule/Förderschule)
notiert werden.
Teilnahme
am Integrativen Schulentwicklungsprogramm
Die
integrative Arbeit im Montessorizug in Steinbach hat keinen ursächlichen
Zusammenhang mit ISEP. Der integrative Aspekt war schon in der
Planungsphase des Zuges (vor 1995) fester Bestandteil des Konzeptes. Anknüpfen
konnte man damals aber an die guten Erfahrungen, die der
Montessori-Kindergarten (in freier Trägerschaft) in der Zusammenarbeit
mit der örtlichen Sprachheilschule machte. Weil es im Landkreis keinen
Sprachheilkindergarten gab und gibt, unterstützte die Schulleiterin von
der Wolfgang-Wendlandt-Schule (Sprachheilschule) aktiv die Bildung eines
ersten integrativen Haller Kindergartens, in dem seither immer Plätze für
sprachbehinderte Kinder reserviert sind. Als die ersten Kinder den
Montessori-Kindergarten verlassen sollten, war das der Anlass für den Trägerverein
sich um eine Fortsetzung des integrativen Konzepts an einer Grundschule zu
bemühen. Die Eltern des Montessorizugs haben sich bewusst und in Kenntnis
des Konzeptes für diesen Schulzug entschieden. Es besteht deshalb grundsätzlich
eine Akzeptanz für die integrative Arbeit.
Seit
2001 wurde der Steinbacher Montessorizug in das ISEP-Programm einbezogen.
Dies brachte auf formaler Ebene einige Vereinfachungen und Klarstellungen
der Rechtsgrundlagen, vor allem in den Bereichen der Notengebung, der
Schulberichtsformen und hinsichtlich eines lernzieldifferenten
Unterrichts. In der Arbeitsweise hat sich durch die ISEP-Zugehörigkeit
nichts geändert; die Arbeitsbedingungen (Personalressourcen) haben sich
nicht verbessert.
Der
pädagogische Rahmen
Der
Kernpunkt der Montessoripädagogik ist es, dem Kind einen Raum (eine
Atmosphäre) zu schaffen, der es ihm erlaubt Subjekt seines Lern- und
Entwicklungsprozesses zu sein und durch Selbsttätigkeit seine Persönlichkeit
aufzubauen. Es braucht dazu eine "vorbereitete Umgebung", die
sorgfältig auf das entsprechende Entwicklungsniveau der fünf- bis zwölfjährigen
Kinder abgestimmt ist. Es müssen erprobte Entwicklungsmaterialien
vorhanden sein, die die Kinder ansprechen und ihnen handelnde und möglichst
selbständige Lernprozesse ermöglichen. Die wichtigste Unterrichtsform
ist dementsprechend die Freie Arbeit. Innerhalb dieses Rahmens können und
sollen die Kinder selbst bestimmen, an welchem Thema sie arbeiten, wie
lange und mit wem sie dies tun. Die LehrerInnen haben dabei gegenüber
einem klassischen Lehrmodell eine zurückhaltende, aber dennoch sehr
aktive Funktion. Sie begleiten die Prozesse mit Hilfestellungen,
thematischen Einführungen, Anregungen, Bereitstellung des Materials,
Beratungen, Ermunterungen, (diagnostischen) Beobachtungen und, wo es dem
Ziel einer konzentrierten Tätigkeit dienlich erscheint, auch mit
konkreten Arbeitsvorgaben. Auf ganz persönlicher Ebene ist die/der
LehrerIn verantwortlich dafür, eine Atmosphäre der Achtung, der Rücksicht,
der Freude und der Konzentration zu schaffen.
Wichtig
für die Kinder ist die Erfahrung Zeit zu haben, den eigenen Rhythmus
finden zu können. Lernprozesse sollen als persönlich bedeutsam erfahren
werden. Lernen ist auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person und
hat mit der Beziehung zu anderen Menschen zu tun. Solche Prozesse brauchen
Freiraum und Zeit. Störungen und Konflikte brauchen nicht als hemmende
Abweichungen gesehen werden, sondern können als fruchtbare
Auseinandersetzung begriffen werden.
Die
Altersmischung hat weitreichende Folgen. Schulanfänger werden in eine
bereits bestehende Kindergruppe aufgenommen mit funktionierenden Ordnungen
und Regeln. Diese werden ihnen von älteren Kindern vorgelebt statt von
Lehrerseite aus vorgegeben. Dies kommt der sozialen Atmosphäre sehr
zugute. Die "Kleinen" erhalten von den "Großen"
gerade für die Freien Arbeit eine Fülle von Anregungen. Jedes Kind erfährt
im Laufe der Zeit unterschiedliche Rollen. Die älteren Kinder machen
wesentliche Erfahrungen, wenn sie kleineren Kindern helfen oder sie bei
ihren Projekten miteinbeziehen. Alle Kinder erleben, dass Unterschiede im
Lernstand und Lerntempo normal sind. Sie müssen sich nicht in allem an
der Norm des eigenen Jahrgangs messen, sondern können ihre eigenen Fähigkeiten
und die eigene Lernentwicklung differenzierter wahrnehmen. Durch die jährlich
sich verschiebende Stellung des Kindes innerhalb der Gruppe werden soziale
Verfestigungen, etwa einer Außenseiterposition tendenziell aufgelockert.
Auch hinsichtlich von Verhaltensauffälligkeiten von Kindern kann man, natürlich
nicht in jedem Fall, hilfreiche Einflüsse beobachten. Schließlich wird
das längere Verbleiben in der Grundschule entscheidend erleichtert, weil
das Kind in seiner Gruppe bleiben kann. Die Gefahr einer Degradierung und
Isolierung wird spürbar verringert.
Dieser
Rahmen kommt einer integrativen Arbeit sehr entgegen. Es gibt in den
Lerngruppen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die als solche
von der Gruppe gar nicht unbedingt wahrgenommen werden. Auch wo die
Behinderung augenfällig ist, erscheint dieser Umstand in einer Umgebung
der Vielfalt trotzdem vielleicht noch als "normal".
Es
gibt im Wochen- und Tagesrhythmus nicht ausschließlich Freie Arbeit.
"Gebundene" Unterrichtsformen haben – in unterschiedlicher
Ausprägung – im Steinbacher Montessorizug ebenfalls ihren Ort.
Thematische Projekte, musische und religiöse Inhalte werden zum Teil im
Klassenverband behandelt. Die täglichen Morgenkreise, die regelmäßigen
Schülerreferate oder Vorstellungen von Arbeiten und Büchern sowie der wöchentliche
Klassenrat bilden die strukturellen Klammern, wodurch sich die Kinder
trotz aller Differenzierung als Teil einer verlässlichen Gemeinschaft
erleben können.
In
einem Teil der Klassen gibt es die Struktur, dass die Kinder manche
Lerninhalte zu regelmäßigen Zeiten nach Stundenplan bearbeiten. So können
vorbereitete Lehrgänge beispielsweise in Geometrie oder Grammatik
kontinuierlich und dennoch im eigenen Tempo durchgearbeitet werden. In
ausgewählten Bereichen finden sich die Kinder auch in jahrgangs- bzw.
leistungsvergleichbaren Lerngruppen mit einem/einer LehrerIn zusammen. In
solchen Unterrichtszeiten werden zum Beispiel die älteren Kinder auch auf
einen Unterricht mit Schulbuch vorbereitet. Vor allem in Mathematik hat
sich dieses Vorgehen bewährt. Andere Beispiele dafür sind Lektüre-Gruppen,
die gemeinsam ein Buch lesen, darüber reden und ein Projekt dazu durchführen
oder Gruppen, die sich eine Zeit lang intensiver mit dem Thema Mädchen/Jungen
und ihrer Geschlechtlichkeit beschäftigen. Solche Gruppen können für
eine gewisse Zeit oder für die Dauer eines ganzen Schuljahres gebildet
werden. Sie sind manchmal auch sehr klein. Die Schüler empfinden solche
Gruppen oft als interessante Abwechslung der Lernform und bringen dann
auch eine hohe Bereitschaft für ein effektives Arbeiten mit. Allerdings
sind die Nachteile solcher Lösungen für eine integrative Arbeit auch
nicht zu übersehen. Je ziel- und leistungshomogener eine Gruppe
zusammengestellt wird, um so schwieriger wird es, ein Kind mit besonderem
Förderbedarf hinsichtlich der sozialen Struktur und der speziellen
Lernvoraussetzungen passend zuzuordnen. Aus diesem Grund gibt es in
Steinbach auch die Bestrebung, auf solche feste Gruppen mehr und mehr zu
verzichten.
Der
sonderpädagogische Blickwinkel
Eine (Grund-)Schule,
die sich auf den Weg hin zu einer integrativen Praxis gemacht hat, sieht
sich mit der Frage konfrontiert, ob sie den Ansprüchen einer
ausdifferenzierten Sonderpädagogik genügen kann. Einerseits kann gut
begründet werden, wie innerhalb der beschriebenen Rahmenbedingungen
sonderpädagogische Prinzipien zum Zuge kommen: Zum Beispiel individuelle
Förderung, Selbsttätigkeit, Bewegung und Handtätigkeit, vielfältige
Wiederholungsmöglichkeiten, Anschaulichkeit und Klarheit des Materials,
materialimmanente Ordnungsstrukturen, Isolierung des zu erlernenden Themas
usw. Dieser Praxis liegt auch die Erfahrung zu Grunde, dass das Lernen bei
behinderten Kindern dem Wesen nach nicht anders verläuft als bei nicht
behinderten. Tatsächlich gilt für eine Reihe von Gutachtenkinder im
Montessorizug, dass sie über das ohnehin übliche Maß an Differenzierung
und Zuwendung von Seiten der Lehrkräfte keine besonderen Bedingungen oder
Maßnahmen brauchen.
Manchmal
braucht es trotz einer speziellen Behinderung weniger eine Speziallösung
als etwas Aufmerksamkeit. Zum Beispiel besucht seit einem halben Jahr ein
gehörloses Mädchen mit normaler Begabung die Schule. Sabrina kann durch
ein Implantat gut verstehen, wenn direkt mit ihr gesprochen wird.
Unterrichtsgespräche kann sie jedoch nur mit Mühe verfolgen. Ihr kommt
sehr entgegen, dass sie in der Freien Arbeit einzeln oder in einer kleinen
Gruppe angesprochen werden kann. Zudem kann sie jederzeit nachfragen und
andere Kinder können ihr helfen, ohne dass es den "Unterricht"
stören würde. Und es gibt genauso Situationen, in denen Sabrina anderen
Kindern helfen kann, so dass ihre Rolle nicht einseitig festgelegt ist.
Es
gibt aber auch die Kinder, bei denen ein spezielleres Expertenwissen zur
Diagnose und Förderung einfach nötig ist, z. B.
Kinder mit schwer zu verändernden Sprach- und Kommunikationsstörungen,
mit autistischen Zügen, Mutismus, Asperger Syndrom, Ess-Sucht, Schwer-
und Fehlsichtigkeit, auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen,
AD(H)S, Körperbehinderungen, Entwicklungsstörungen, psychischen Traumata
usf. Sie brauchen den genauen Expertenblick, um ihnen gerecht zu werden
und auch um einschätzen zu können, ob die Lerngruppe inklusive der
LehrerInnen diesen speziellen "Fall" halten und tragen kann. Häufig
beginnen die Kontakte zu Eltern von Kindern mit Behinderung schon Monate
vor der Schulanmeldung. Es ist gut, wenn genügend Zeit zur Verfügung
steht um aussagekräftige Gutachten zu erstellen. Diese Gutachten werden
gemeinsam von Klassenlehrern und untersuchenden Sonderpädagogen sorgfältig
besprochen. Nicht selten stellt sich in diesem Stadium oder auch
irgendwann im Laufe der Schulzeit heraus, dass weitere Untersuchungen, wie
etwa der Pädiatrischen Zentren, notwendig sind.
Für
die KlassenlehrerInnen hat diese fachliche Ebene immer wieder einen ganz
eigenen Reiz. Sie sind nicht die Experten, aber sie sind im eigenen
Interesse darum bemüht, das fachlich Notwendige zu verstehen und sich auf
aktuellem Stand zu informieren. Der Blick auf das einzelne Kind ist
wiederum darin "besonders", dass viele Aspekte zusammengetragen
werden und letztlich der Focus nicht auf dem speziellen Defizit, sondern
auf einer im Alltag erlebbaren Normalität liegt.
Fast
überhaupt nicht mehr wird in den Montessoriklassen eine klassische
Einzelförderung praktiziert, die darin besteht, dass ein Kind aus der
Gruppe oder aus dem Raum herausgeholt wird und separat von einem
Spezialisten gefördert wird. Dies lässt die Personalversorgung kaum zu
und ist auch vom Ansatz her nicht angestrebt. Hier liegt die Ausrichtung
auf der situativ notwendigen Hilfe und der sinnvollen Zuwendung innerhalb
der Freien Arbeit, auf der Selbsttätigkeit des Kindes und des Lernens von
und durch andere Kinder. Dies schließt spezielle Lernarrangements,
individuell vorbereitetes Material und besondere Übungsformen auch für
zu Hause nicht aus.
Andererseits
sind in diesem System die Grenzen auch empfindlich zu spüren. Sie liegen
vor allem darin, wenn ein Kind dauerhaft eine enge Begleitung braucht, um
überhaupt zur Konzentration und zu einer Tätigkeit zu finden bzw. bei
einer Arbeit zu bleiben. In einem begrenzten Umfang konnte in einzelnen Fällen
eine Lösung gefunden werden, indem zusätzlich eine betreuende Person
stundenweise in der Klasse anwesend ist, die in Anwendung des Gesetzes zur
Eingliederungshilfe über das Landratsamt finanziert wird. Ein Beispiel
dafür ist Daniel, bei dem im Laufe des ersten Schuljahres die Probleme in
den sozialen Kontakten immer schwerwiegender wurden, so dass die Situation
insgesamt zunehmend unbefriedigender wurde. In sorgfältigen
diagnostischen Verfahren wurde schließlich ein Asperger Syndrom, eine
Ausprägung von Autismus, festgestellt. Mit diesem Wissen im Hintergrund
konnte für Daniel wieder ein Zugang zum schulischen Leben angebahnt
werden. Es zeigte sich aber auch, dass diese zeitaufwändige Bemühung vom
Klassenlehrer allein nicht geleistet werden konnte. Eine Entlastung
brachte die Unterstützung durch eine Heilerzieherpflegerin, die über die
sogenannte Eingliederungshilfe stundenweise zusätzlich ins Team kam. Die
Aufgaben in diesem vergrößerten Team wurden so verteilt, dass der
Klassenlehrer seine Arbeit mit Daniel intensivieren konnte und die
Helferin sich für Aufgaben in der Gruppe einsetzte. Leider gibt es für
eine solche sinnvolle Lösung keinerlei Rechtsanspruch. In obigem Fall
wurde die Hilfe vom Landkreis gewährt, in einem anderen nicht.
Für
zwei weitere Kinder wurde das Unterstützungssystem aber noch deutlich
umfangreicher. In die Klassen wurden zwei schwer körperbehinderte Kinder
(spastisch gelähmt, im Rollstuhl) aufgenommen, die anfangs auch nicht
sprechen konnten. Damit sie überhaupt am Schulleben teilhaben und lernen
konnten, wurden sie von Zivildienstleistenden den ganzen Vormittag über
in der Schule begleitet. Zudem wurde das Lehrerteam wieder durch eine
Sonderschullehrerin der Sonnenhofschule, einer Schule für geistig- und
mehrfachbehinderte Kinder, stundenweise unterstützt. Auch hier
entwickelte sich das Betreuungskonzept zunehmend in der oben beschriebenen
Weise. Die Sonderschullehrerin hatte zwar ihren Schwerpunkt in der Arbeit
mit "ihrem" Kind, aber die Aufgabenverteilung in den vergrößerten
Teams wurden immer flexibler gehandhabt. Die sehr spezielle Aufgabe, die
technischen Hilfsmittel bereitzustellen (PC, gestützte Kommunikation),
wurde von einem weiteren Kollegen aus dem Sonderschulbereich übernommen.
Erwähnt
werden muss auch etliches ehrenamtliche Engagement von Eltern, die z. B.
als Lesemutter/-vater oder Betreuer in der Schuldruckerei die Zeit
aufbringen, einmal ganz für einzelne Kinder da zu sein und über mehrere
Wochen einen Lernprozess engagiert begleiten. Schließlich gibt es zur
Entlastung der Schule auch ein Netz von außerschulischen Einrichtungen,
die spezielle Aspekte einer therapeutischen Förderung übernehmen können.
Dies gilt z. B. für Logopädie, Ergotherapie, therapeutisches Reiten und
anderes mehr.
Aspekte
der Teamentwicklung
Das
Arbeitsfeld für die LehrerInnen des Montessorizuges hat sich gegenüber
dem "klassischen" Bild von Schule wesentlich verändert. Dies
ist nicht nur in der Methode einer integrativen Montessoripädagogik begründet.
Die neue Qualität hat auch mit der Art des Arbeitens im Team zu tun. In
der gemeinsamen Zeit mit den Kindern ist die Beziehung der Erwachsenen
untereinander auf einer sehr persönlichen Ebene spürbar. Vieles hängt
davon ab, dass sich die Teams finden können. Bei einer Personalveränderung
wird deshalb die Form der "schulbezogenen Stellenausschreibung"
angewandt. In der Geschichte des Montessorizuges stellte sich immer wieder
die Frage nach den nötigen Qualifikationen der LehrerInnen. Es war und
ist in manchen Situationen hilfreich, dass sich Sonderschul- und
GrundschullehrerInnen in den Teams ergänzen. Aber dieser formale Status
steht nicht im Vordergrund. Andere Teams bestehen ausschließlich aus
GrundschullehrerInnen. Ähnlich verhält es sich auch mit der formalen
Qualifikation durch eine Zusatzausbildung mit Montessori-Diplom. Es kommt
auf die pädagogische Haltung und die Bereitschaft an, in dem
beschriebenen, profilierten Rahmen zu arbeiten.
Jede
Klasse, jedes Team beschreibt die eigene Arbeit als Entwicklungsprozess.
In vielen Fragen werden immer wieder neue Wege gesucht. Die
konzeptionellen Ausprägungen in den einzelnen Gruppen sind nicht in allem
gleich und müssen es auch nicht sein. Aber das Gespräch darüber, was
die Arbeit verbindet und nach außen als ein gemeinsames Projekt erkennbar
macht, gehört zur unverzichtbaren inneren Kultur, die anstrengend sein
kann, aber auch den entscheidenden Rückhalt bietet.
Die
immer wiederkehrenden Fragen sind oft Fragen in Grenzsituationen:
-
Bezüglich der Integrationsmöglichkeiten
der Gruppen: Für welche Kinder kann die bestehende Gruppe eine geeignete
"Heimat" bieten? Altersgemischte, integrative Klassen dürfen
nicht zu klein sein. Kinder sollten die Möglichkeit haben Partner und
Freunde zu finden. Aber kann das Kind die Vorgänge in einer großen
Gruppe noch überschauen, sich darin zurechtfinden und sich einbringen?
Oder braucht es dafür gerade eine kleine Gruppe?
-
Bezüglich der Zusammensetzung der
Gruppen: Manchmal lässt es sich nicht verhindern, dass einzelne Gruppen
durch die Zusammensetzung der Kinder übermäßig belastet sind. Das hat
nicht unbedingt mit der integrativen Arbeit zu tun. Hier geht es
vielleicht mehr um das soziale Verhalten der Kinder, ihre Konzentrations-
und Entscheidungsfähigkeit, ihre Interessen und ihre Lernmotivation. Es
muss deshalb jedes Jahr sehr sorgfältig bedacht werden, welche neuen
Schulanfänger in welchen Kleingruppen auf die Klassen verteilt werden.
-
Bezüglich der Arbeitsbedingungen: Die
zeitliche und kräftemäßige Belastung in der Komplexität der Arbeit ist
sehr hoch. Der Vergleich mit ähnlichen Schulen oder Schulprojekten (häufiger
in freier Trägerschaft oder im Ausland) zeigt, dass andernorts deutlich
mehr Personal zur Verfügung steht.
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Bezüglich der "großen"
Schulstruktur: Kinder, die in Steinbach angemeldet wurden, aber nicht
aufgenommen werden konnten, sei es wegen der begrenzten Plätze oder aus
der Einsicht heraus, dass der Montessorizug nicht der geeignete Förderort
sein kann, finden manchmal auch anderswo nur schwer eine befriedigende
Alternative. Und nach der Grundschulzeit entsteht für manche Kinder ein
Bruch, weil der integrative Unterricht in weiterführenden Schule nur sehr
selten fortgesetzt werden kann. Es gibt aber auch hoffnungsvolle
Ausnahmen: Steffen, der schwer körper- und sprachbehinderte Junge,
besucht inzwischen zusammen mit "seinem" Zivi die sechste Klasse
einer Hauptschule und kommt ausgesprochen gut damit zurecht.
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[nach
oben]
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