»Kritik unter Freunden« – Schulverbund »Blick über den Zaun« zu Besuch im Haller Montessorizug

 

Von Thomas Helmle 

 

Vom 21. bis 23. April 2010 war „großer Bahnhof“ im Haller Montessorizug: Insgesamt 18 Lehrkräfte – Mitglieder des Arbeitskreises 9 des Schulverbundes »Blick über den Zaun« – nahmen den  Montessorizug der Grundschule Steinbach und der Thomas-Schweicker-Werkrealschule unter die Lupe. Dem reformpädagogisch orientierten Verbund gehören zurzeit über 100 Schulen verschiedener Schularten in der ganzen Republik an. Die Schulen arbeiten in 12 Arbeitskreisen zusammen und besuchen sich zweimal im Jahr gegenseitig. Jetzt war der Haller Montessorizug an der Reihe. Zum Arbeitskreis 9 gehören neben den drei Haller Vertretern KollegInnen aus dem Gymnasium Sanitz, der Montessori-Gesamtschule Saarbrücken, der Realschule des Marianums in Hegne, der inklusiven Sophie-Scholl-Schule in Gießen, der Brennpunkt-Grundschule Bergfidel in Münster, der Ganztagsgrundschule Bremen-Tenever, des Schulzentrums an der Koblenzer Straße (künftig: Oberschule) in Bremen, der Grundschule Gau-Odernheim. Der Arbeitskreis wird von Alfred Hinz und Ursula Herchenbach von der Bodenseeschule in Friedrichshafen (GHS) beraten.

 

Ziel des »Blick über den Zaun« (BÜZ) ist es, durch regelmäßige wechselseitige Besuche und durch gemeinsame Tagungen dazu beizutragen, dass Schulen im direkten Erfahrungsaustausch voneinander lernen. Die Besuche – Hospitationen und Rückmeldungen – finden auf gleicher Augenhöhe statt. So zeigen die gastgebenden Schulen den Gästen neben den Stärken auch gerne die eigenen Schwachpunkte und weisen im Vorfeld auf Problembereiche hin – in der Hoffnung konstruktiv beraten zu werden. Dadurch können die BÜZ-Besuche sehr nachhaltig auf die jeweils eigene Schulentwicklung wirken.

 

Die LehrerInnen des Haller Montessorizuges hatten ihren Gästen drei Fragen gestellt: Zwei waren genauerer Art: für das 1. bis 6. Schuljahr: „Was beobachtet ihr im Hinblick auf das Themenfeld »Ruhiges, konzentriertes Arbeiten – Ablenkung/Störung – Anregung/ Ansteckung«?“ und für das 7. Schuljahr:  „Haben die SchülerInnen Möglichkeiten, echte Verantwortung zu übernehmen? Seht ihr Möglichkeiten der Erweiterung im Hinblick auf mehr Expertenschaft?“

 

Im Anschluss an die Hospitationen fanden im Festsaal der Comburg zwei Rückmelderunden an das Montessorikollegium statt. Dabei beantworteten die hospitierenden Lehrer die beiden genaueren Fragen dahingehend, dass sie durchweg beeindruckt waren von der „Tiefe“, mit der sich die Kinder in Steinbach mit ihren Themen befassen. „Sie haben verstanden, dass Lernen eine lebenslange Grundhaltung ist und nicht etwas, das nur für die nächste Klassenarbeit von Bedeutung ist“, formulierte Barbara Wenders von der Grundschule Bergfidel in Münster ihre Beobachtungen. Die Mitglieder der Gruppe, die die Siebtklässler im Hohenloher Freilandmuseum einen Tag lang begleitet hatte, waren enorm beeindruckt vom Gespräch einiger Schüler mit dem Elektriker, der später einmal die Elektroinstallation im ehemaligen Farrenwärterhaus abnehmen soll. „Ist hier eine Kreuzschaltung sinnvoll oder reicht eine einfache Wechselschaltung?“, fragten die Schüler den Fachmann als sie gemeinsam den künftigen Klassenraum betraten. Die Schüler hatten die Elektrik-Planung für die Renovierung des Farrenwärterhauses ausgearbeitet und dadurch viel Fachwissen und Expertenschaft in einer „echten“ Situation erworben. Auch an anderen Stellen sahen die BÜZ-Gäste im derzeit praktizierten Unterrichtsgeschehen der Siebtklässler viele Möglichkeiten für die SchülerInnen verantwortlich zu sein.

 

Zur dritten, offenen Frage der Gastgeber – „Was seht, denkt, spürt ihr, wenn ihr unsere Klassen besucht? Was überzeugt euch, wo seid ihr skeptisch? Habt ihr Lob, Kritik, Ideen und Anregungen?“ – wurden der achtungs- und respektvolle Umgang der LehrerInnen mit den Kindern, das gute soziale Miteinander in den altersgemischten Gruppen und die strukturierte Gestaltung der Lernumgebung lobend erwähnt. Kritische Nachfragen gab es zur hohen Schülerzahl in den beiden Großklassen des Montessorizuges, zur Dauer der relativ langen ersten Phase von »freier Arbeit« vor der großen Pause und zu „gebundenen“ Unterrichtseinheiten. Die Gäste hatten beobachtet, dass offene thematische Angebote im Rahmen der freien Arbeit zu effektiveren Lernerfahrungen geführt hatten als die gebundenen Einheiten.

 

Auch der fehlende Aufzug im Steinbacher Samenbau war ein Thema der Rückmelderunde. Nach Meinung der Gäste braucht die GS Steinbach einen solchen längerfristig, weil sie als inklusive Schule unter anderen von körperbehinderten Kindern besucht wird. Die finanziellen Lagen der Stadt und des Landes lassen solche Überlegungen zurzeit aber nicht zu. Deshalb werden die körperbehinderten Kinder, deren Klassen sich in den oberen Stockwerken befinden, im Treppenhaus getragen. „Was für ein schönes Bild“, sagte Barbara Wenders dazu, „die Kinder werden im wahrsten Sinne des Wortes getragen! Niemand sagt: ‚Dieses Kind können wir nicht aufnehmen, wir haben keinen Aufzug!’“ 

 

Siehe auch Berichte im Haller Tagblatt: